Seit Tagen lag er da auf dem Tisch. Jedes Mal, wenn sie darauf blickte, schien er zu sagen, „Nimm mich endlich in Deine Hand. Trau Dich!“ Doch bis jetzt hatte noch immer die ängstliche Stimme in ihr gesiegt und sie hatte die Aufforderung erfolgreich ignoriert.
Die Tage vergingen und...
... der Stapel am Tisch wuchs und begrub sowohl ihn als auch das zugehörige Gegenstück, für das er erschaffen worden war. Dem Sprichwort „aus den Augen, aus dem Sinn“ folgend, vergaß sie irgendwann auch darauf. Nur hin-und-wieder hatte sie das Gefühl, dass es da noch etwas gab, was sie hatte tun wollen oder hätte tun sollen. Manchmal fühlte sie sich kurz in sich ein, doch nachdem sie kaum einen weiteren Impuls bekam und viel zu tun hatte, ignorierte sie dieses Gefühl.
Erst als sich ein paar Freunde für den nächsten Tag zu Besuch angemeldet hatten, kam etwas in Bewegung. Damit sie alle bei Tisch sitzen konnten, beschloss sie, endlich den Stapel abzuarbeiten. Schnell sah sie ihn durch und bildete zwei weitere Haufen, einen zum gleich wegwerfen und den anderen zur weiteren Bearbeitung.
Plötzlich rutschte der Brief, den sie schon so lange ignoriert hatte, heraus. „Oh, mein Gott! Dich habe ich ja ganz vergessen gehabt!“, stöhnte sie auf. Ihre Hand zitterte. Sollte sie jetzt gleich hineinschauen oder erst nachdem ihre Freunde da gewesen waren oder sollte sie ihn öffnen, wenn sie anwesend waren?
Sie war ganz durcheinander. „Tief Luft holen“, sagte sie zu sich selbst. „Beruhige Dich erst einmal. Atme tief ein und aus, schüttle Deinen Körper und dann trink ein Schluck Wasser. Du bist beschützt. Deine Engel sind bei Dir. Dir kann nichts passieren.“ Nachdem sie ihren eigenen Anweisungen gefolgt war, fühlte sie sich besser.
Andächtig nahm die den Brief in die Hand. Sie verband sich mit ihm, legte ihn zwischen ihre Hände und versuchte, sich in die Energie einzufühlen. Was nahm sie wahr? Erinnerungen tauchten auf. Lang vergessene. Sowohl die schönen, als auch die weniger angenehmen. Es waren offensichtlich letztere, die sie bis jetzt davon abgehalten hatten, ihn zu öffnen, sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen.
„Was Du ablehnst, stärkst Du“, fiel ihr auf einmal ein, ebenso wie „in der Annahme liegt Heilung.“ Natürlich wollte sie Heilung, doch wie schaffte sie es, alles annehmen zu können, wenn der Schmerz noch da war? Von der Logik war es klar – nimm Deine Vergangenheit an, denn wenn Du sie ablehnst, wird sie bleiben.
Mit einem Stoßgebet wandte sie sich an ihre himmlischen Begleiter, „Okay, liebe Engel, ich danke für eure Unterstützung. Gebt mir Mut, mich endlich meiner Vergangenheit zu stellen, und meine Wunden zu heilen.“ Ein Seufzer entfuhr ihr.
„Na gut, dann brauche ich aber noch…“ „Halt, einen Moment. Er lag doch da. Wo ist er hingerutscht? Hektisch durchsuchte sie die Stapel. „Der Rosenquarz ist doch schwer. So leicht kann der doch nicht untergehen.“
„Versteckst Du Dich jetzt, weil ich Dich so lange nicht in die Hand genommen habe? Oder sind hier etwa ein paar Kobolde am Werk?“, fragte sie laut. Als ob ihr der Brieföffner, der sich am Ende des Rosenquarzes befand oder die Kobolde antworten würden. Doch manchmal hatten es beide schon getan, oder war es nur ihre Fantasie gewesen, die ihr einen Streich gespielt hatte?
„Nachdem es manchmal das Beste ist, eine kurze Pause einzulegen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, werde ich das jetzt machen.“ Kurz entschlossen ging sie eine kleine Runde spazieren.
Wieder daheim sprach sie sich Mut zu, ging zum Esstisch und schaute langsam und vorsichtig alle dort liegenden Unterlagen durch. Unter der vorletzten Zeitschrift lag er – der Brieföffner mit dem Rosenquarz, der ihr noch einmal die Tür zur Vergangenheit öffnen sollte. Schweren Herzens nahm sie in die Hand und hielt ihn eine Weile. Der Kristall wurde warm und erinnerte sie daran, dass er für die Liebe stand.
„Danke, dass Du mir mit Deiner Energie hilfst, meine Wunden zu heilen“, flüsterte sie dem Rosenquarz liebevoll zu.
Kaum hatte sie den Brief geöffnet und seine Handschrift gesehen, flossen auch schon die Tränen, sodass sie im ersten Moment unfähig war, etwas zu lesen. Sie nahm sich ein paar Minuten Zeit, um sich zu sammeln, sich hinzusetzen und sich noch einmal von seinen Worten berühren zu lassen.
Text: Sabine Potetz
Bilder: Canva